Claudia Freyer / Illustratorin & Schriftstellerin
HomeNeuigkeitenÜber michKinderbücherErwachsenenbücherFragen & AntwortenBlogFacebookInstagramKontaktImpressum
zurück

Der Schrein
Roman


3. Die böse Königin

Spieglein, Spieglein an der Wand. Ich stehe im winzigen Bad meines Psychiatriezimmers und betrachte mich in der glänzenden Silberfläche über dem Waschbecken. Zum ersten Mal. Zum tausendsten Mal? Spieglein, Spieglein. Bin ich die böse Königin? Ich erinnere mich an das Märchen, Faktenwissen vermutlich. Spieglein, Spieglein. Meine Haut ist blass, meine kurzen Haare blond, meine Augen so hellblau, dass sie fast weiß wirken. Schön? Attraktiv ja, aber schön? Mein Gesicht hat etwas seltsam Unbestimmtes. »Androgyn« ist vermutlich der richtige Ausdruck. Androgyn: männliche und weibliche Merkmale vereinend; zwittrig. Faktenwissen.
Ich blicke auf meine Hände, sie sind feingliedrig, mit schmalen, rosigen Nägeln. Diese Hände haben Menschen getötet. Aber wie viele? Nur die beiden Kirgisen, die aus welchen Gründen auch immer vor den Lauf meiner Pistole geraten sind? Oder noch andere?
Ich ziehe das Psychiatriehemd aus und mustere meinen nackten Körper. Er ist schlank und hochgewachsen, vielleicht etwas mager. Nicht übel. Hat je ein anderer Mensch diesen Körper begehrt? Mit wie vielen Männern habe ich geschlafen? Oder mit wie vielen Frauen? Gab es jemanden in meinem Leben? Darüber steht nichts in der Akte. Überhaupt steht da fast nichts über mich.
Mein Name ist Tilda Szabo, ich bin zweiunddreißig Jahre alt, meine Eltern sind verstorben, ich habe einen Bruder. Mein letzter gemeldeter Wohnsitz ist eine Pension in Köln-Deutz. Außerdem findet sich ein Vermerk darüber, dass ich gesund und Trägerin einer Hormonspirale bin.
Sonst nichts.
Warum habe ich keine Wohnung? Ist das in dem Metier, in dem ich arbeite, üblich? Scheinbar besitze ich nicht einmal ein Auto, obwohl in meiner Handtasche bei meiner Verhaftung neben einem Personalausweis auch ein Führerschein gefunden wurde. Wie bin ich dann aber zum Tatort gekommen? Zu Fuß? Und warum hatte ich kein Handy dabei?
Da hast du aber jede Menge Arbeit, Tilda.
Mein Spiegelbild bleckt die Zähne, sehr weiß und sehr ebenmäßig. Die böse Königin versucht ein Lächeln, allerdings wenig überzeugend. Die Zunge herauszustrecken gelingt ihr besser. Eine Grimasse zu schneiden ebenfalls. »Heiliger Strohsack!«, entfährt es mir. Was für ein komischer Ausdruck. Woher ich den wohl habe? Ich beginne zu kichern.
Na prima. Fällt dir nichts Besseres ein, als über deine eigenen Faxen zu lachen, Tilda? Willst du denn für immer das Echo deines verschwundenen Selbst bleiben?
Nein. Natürlich nicht!
Dann pack es an, Tilda! Finde heraus, wer du bist. Finde heraus, wen du gekannt hast, wen du geliebt hast, wen du getötet hast. Und vor allen Dingen: Finde heraus, warum du es getan hast.
Allez, Tilda! Allez!

zurück